Bis zu einem Drittel der Schüler – so Lehrer- und Elternverbände – sitzen in den Bänken, ohne gefrühstückt zu haben.
Als EiZ-Botschafterin Uschi Glas im Jahr 2009 davon hörte, wurde sie aktiv. Gemeinsam mit ihrem Mann gründete sie den Verein „brotZeit“. Inzwischen sind in diesem weit über 600 ältere Menschen engagiert. Eine von ihnen ist Ursula Wächter. Die Heilbronnerin hat uns erzählt, warum es sich für sie lohnt, sich einmal in der Woche schon um 5:10 Uhr aus dem Bett zu „quälen“.
Dass auch in Deutschland Schülerinnen und Schüler im Unterricht sitzen, ohne etwas zum Frühstück gegessen zu haben, fällt schwer zu glauben. Auch Uschi Glas wollte es zunächst nicht wahrhaben. Als sie im Radio hörte, dass es in der reichen Stadt München zwischen drei- und fünftausend hungernde Kinder gebe, sei ihre erste Reaktion gewesen: „Das kann nicht stimmen!“ Dann allerdings sei sie der Geschichte auf den Grund gegangen, habe Grundschulen angeschrieben und gefragt, ob sie mit dem Problem zu tun hätten. „Und da haben wir dann doch eine ganz große Resonanz gehabt.“
Für Uschi Glas war schnell klar, dass sie tätig werden würde. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Unternehmensberater Dieter Hermann, und dem Münchner Rechtsanwalt Dr. Harald Mosler gründete sie den Verein brotZeit e.V. Seine Mitglieder – über 600 Seniorinnen und Senioren – geben zweierlei: Brot in Form eines Frühstücks und Zeit in Form von Hausaufgabenbetreuung beziehungsweise ergänzenden Unterrichtsangeboten. In sechs Förderregionen sind die brotZeit-Mitarbeiter aktiv. Eine dieser Förderregionen ist der Raum Heilbronn/Neckarsulm in Baden-Württemberg. Hier ist seit Juni 2012 Ursula Wächter tätig.
Lesen, kochen, Brotzeit machen
Ursula Wächter sagt von sich, sie sei eine „echte Schwäbin“. 1942 in Stuttgart geboren, wohnt sie seit 1971 im Landkreis Heilbronn, seit 20 Jahren in Lauffen am Neckar. Sie hat zwei Kinder, beide sind inzwischen erwachsen und leben ihr eigenes Leben. Ursula Wächter hat bis 2004 gearbeitet, im kaufmännischen Bereich und in der Logistik, danach begann die passive Phase ihrer Altersteilzeit, seit 2005 ist sie in Rente. Und diese verbringt sie aktiv. „Ich wusste immer, dass ich niemand bin, der zu Hause sitzt“, erzählt sie. „Ich habe schon während meiner Berufstätigkeit eine Weltladen-Arbeit betrieben und bin jetzt immer noch dabei. Und ich bin Vorlesepatin in der Bücherei für die 1. Klasse.“ Vor allem aber sorgt die Dame, die viel radelt und liest und gerne kocht, als brotZeit-Seniorin einmal in der Woche dafür, dass die Kinder zweier Schulen nicht „ungefrühstückt“ in die Klasse gehen müssen. Der Tipp dazu kam von einer Freundin, die brotZeit für sich entdeckt hatte. „Das klingt aber gut“, habe sie sich gesagt, als sie von dem Engagement erfuhr, so Ursula Wächter, „das könnte ich doch auch machen!“
Um 5:10 Uhr ist die Nacht zu Ende
Jeden Donnerstag um 5:10 Uhr klingelt in Ursula Wächters Schlafzimmer der Wecker. Eine knappe Stunde bleibt ihr dann für Morgentoilette und Frühstück, bevor sie um 6:23 Uhr in den Zug steigt. Mit diesem geht es ins benachbarte Neckarsulm und von dort per Bus nach Amorbach. Hier liegt zwischen der Amorbach-Werkrealschule und der Pestalozzi-Förderschule mit direkter Verbindung zwischen den Gebäuden eine Mensa, die die beiden Schulen gemeinsam nutzen. „Um kurz nach sieben komme ich dort an“, berichtet Ursula Wächter. Die anderen beiden Damen, die mit ihr zusammen am Donnerstag das Frühstück zubereiten, sind zu diesem Zeitpunkt schon vor Ort. Ursula Wächter: „Man kommt da an und guckt, was die anderen schon gemacht haben. Dann muss man Teller herausstellen, kleine Schüsselchen. Man muss die Getränke richten. Wir haben Apfelsaft, Orangensaft, Milch. Wir machen Kakao, wir machen Tee.“ Und dann gibt es ein reichhaltiges Frühstücksangebot: Platten mit Käse und Geflügelwurst – aus Rücksicht auf Kinder muslimischen oder jüdischen Glaubens -, Frischkäse, Marmelade, Nutella, es gibt ein paar geschnittene Äpfel, es gibt geschnittene Gurke, es gibt Müsli. Kooperationspartner von brotZeit stellen die Produkte zur Verfügung und bringen sie vor Ort.
Ab Viertel nach sieben kommen grüppchenweise die Kinder – bis ungefähr um Viertel vor neun. Die größeren kommen früher, die kleineren eher später, weil dann das Gerangel nicht mehr so groß und der Geräuschpegel nicht mehr so hoch ist. „Da gibt es doch schon ein paar Schüchterne darunter“, erklärt Ursula Wächter, „die brauchen einfach ein bisschen Anleitung. Insgesamt, schätzt Ursula Wächter, sind es jeden Tag zwischen 80 und 115 Schüler, die zum Frühstück kommen. Viele von ihnen haben einen Migrationshintergrund.
„Da kommt einfach etwas zurück!“
Was treibt einen dazu, um 6:23 Uhr in den Zug zu steigen, um „kleinen Bälgern“ unentgeltlich ein Frühstück zuzubereiten? Ursula Wächter braucht nicht lange für eine Antwort: „Meine Kinder haben keine Kinder. Ich bin also keine Großmutter“, sagt sie. Und aufgrund ihrer Berufstätigkeit und weil zum Beispiel ihr Sohn bei ihrem geschiedenen Mann aufgewachsen sei fehle ihr „diese Phase, wo die Kinder Erstklässler sind oder auch ein bisschen älter, ein ganzes Stück weit in meinem Leben. Da kann ich jetzt so einiges nachholen. Es gefällt mir, etwas mit Kindern zu machen, und es ist unglaublich schön, zu merken, wie dankbar sie sind. Da kommt einfach etwas zurück!“
So sehr Ursula Wächter ihren Umgang mit den Kindern schätzt – dass nicht immer alles einfach war für sie, dass sie sich erst hat eingewöhnen müssen, verschweigt sie nicht. Sie berichtet: „Am Anfang musste ich ziemlich schlucken über das Benehmen. Wenn die dann morgens hereingelaufen kommen, ohne „Guten Morgen“ oder sonst irgendetwas zu sagen: Das ist schon gewöhnungsbedürftig.“ Auch die Essmanieren mancher Jungen und die viele Schminke in den Gesichtern mancher Elfjähriger war für sie zunächst befremdlich. Doch schnell wurde ihr klar: „Das sind Äußerlichkeiten. Wenn man sich mit den Kindern beschäftigt und sie immer wieder anspricht, dann kommen die auch immer wieder auf einen zu.“ Man baue einfach ein Verhältnis zu den Kindern auf, zu den einen mehr, zu den anderen weniger. „Und einfach zu spüren: Die kommen gerne, die sprechen mit uns, sie vertrauen sich uns an, das finde ich sehr schön.“
Kein Ende in Sicht
An 103 Schulen im Raum München, Heilbronn/Neckarsulm, Berlin, Rhein-Ruhr und Hamburg sind brotZeit-Senioren aktiv. Sie sorgen dort dafür, dass über 4 000 Schülerinnen und Schüler ein Frühstück haben, die ansonsten mit knurrenden Mägen dem Unterricht folgen würden. Die Tendenz ist steigend: In der neuen Förderregion Rhein/Ruhr wurden im 1. Halbjahr 2013 bereits die ersten von 20 geplanten brotZeit-Schulen etabliert, weitere sollen folgen. Um die Zukunft des Vereins muss man sich also keine Sorgen machen. Genauso wenig übrigens darüber, dass Ursula Wächter in nächster Zukunft keine Lust mehr haben könnte, sich donnerstagsmorgens in aller Frühe auf den Weg in die Schule zu machen. Über ein Ende ihres Engagements habe sie noch nie nachgedacht, sagt sie. Und fügt nach einer kurzen Pause bekräftigend hinzu: „Solange ich körperlich fit bin und das Spaß macht, habe ich ganz und gar nicht vor aufzuhören!“
Quelle: Erfahrung ist Zukunft, Originalartikel